Anfang Juli besuchte bordermonitoring.eu erneut die serbisch-ungarische Grenzregion. Die Zahl der irregulären border crossings ist nach wie vor relativ hoch, bzw. hat sogar noch einmal zugenommen, da sich der Zaunbau natürlich auch innerhalb der migrantischen communities herumgesprochen hat und viele daher jetzt noch schnell versuchen, über die Grenze zu kommen. Am Tag vor unserem Besuch wurden auf der ungarischen Seite insgesamt 720 Personen aufgegriffen, was aktuell relativ „normal“ ist. Nach einem Aufgriff werden die Betreffenden in der Regel für kurze Zeit in einem Hanger oder – falls das Gebäude bereits voll ist – in davor aufgebauten Zelten untergebracht. Das Gelände befindet sich direkt am serbisch-ungarischen Autobahngrenzübergang nahe dem Dorf Röszke und wurde vom ungarischen Staat von einer Privatperson angemietet. Hier ein Überblick über die Gegebenheiten vor Ort. Das Video haben wir am 5.7.2015 aufgenommen:
Weitere improvisierte Lager, in die irreguläre Migrant_innen entweder aus dem Lager in Röszke oder direkt nach einem Aufgriff gebracht werden, befinden sich in Nagyfa und in Kiskunhalas. Nagyfa ist eigentlich ein Lagerkomplex für ungarische Strafgefangene und liegt äußert isoliert 12 Kilometer von Szeged entfernt. In einem kürzlich veröffentlichenden Bericht schreibt amnesty international über Nagyfa:
At Nagyfa, asylum-seekers are briefly interviewed in the presence of an interpreter to establish personal details and their reason for seeking asylum. Vulnerable individuals, including unaccompanied minors, are identified. Office of Immigration and Nationality (OIN) officials decide whether they should be placed in one of four open asylum centres or, if they are determined to be at risk of absconding, one of three closed centres. The majority, destined for open asylum centres, are bussed within 24 hours to Szeged, with a letter authorizing their admission and a train ticket to the centre. Not everyone reaches their destination. Some abscond when they change trains in Budapest. More than half of those who claim asylum ultimately abscond.
Ohne offizielle Besuchserlaubnis ist es unmöglich, sich den dort untergebrachten Flüchtlingen auch nur zu nähern, da bereits weit vor dem eigentlichen Gefängnisareal Straßensperren aufgebaut sind.
Das Lager in Kiskunhalas (wo sich auch ein Abschiebegefängnis befindet) wurde erst vor wenigen Tagen eröffnet und bietet Platz für bis zu 800 Personen. Es befindet sich am Stadtrand auf einem alten Kasernengelände, das ebenfalls ohne Besuchserlaubnis nicht betreten werden kann.
In den genannten Einrichtungen bzw. in der Polizeistation in Szeged werden die aufgegriffenen irregular border crossers im Regelfall für einige Tage festgehalten, was vor allem ihrer Registrierung dient. D.h. insbesondere, dass ihnen die Fingerabdrücke abgenommen werden, was faktisch identisch mit einer Asylantragstellung in Ungarn ist, auch wenn den Betreffenden dies nicht mitgeteilt wird und somit auch nicht bewusst ist. Das ist insofern interessant, als dass es durchaus gute Gründe dafür gibt, der neuen Rechtsauffassung der ungarischen Regierung zu folgen, die davon ausgeht, dass aus Art. 3 Dublin III-Verordnung eigentlich eine Zuständigkeit Griechenlands und nicht Ungarns resultiert – wenn, wie in den allermeisten Fällen, Griechenland der erste EU-Einreisstaat war. Dies zumindest dann, wenn in Ungarn kein Asylantrag gestellt wurde, weshalb aus praktischen Überlegungen heraus kaum nachvollziehbar ist, warum Ungarn dennoch Asylanträge („1er-Treffer“) und nicht nur irreguläre Einreisen („2er-Treffer“) in die europaweite EURODAC-Datenbank einspeist.
Nach ihrer Registrierung werden die nun in Ungarn um Asyl ersuchenden Personen von den verschiedenen Lagern mit Bussen an den Bahnhof von Szeged gebracht. In der Hand haben sie ein Papier, das sie auffordert, sich in eine der vier offenen ungarischen Aufnahmeeinrichtungen zu begeben und auch als Fahrkarte dient. Bis vor Kurzem war die Situation am Bahnhof relativ chaotisch, nicht zuletzt deswegen, weil die Polizei nicht selten mit einem Bus zum Bahnhof kam, als der letzte Zug bereits abgefahren war. Vor ungefähr zwei Wochen hat sich nun über Facebook eine lokale Initiative zusammengefunden, die mittlerweile 24 Stunden täglich am Bahnhof von Szeged präsent ist. Dort erhalten die Flüchtlinge nicht nur Informationen, sondern auch Nahrungsmittel und Getränke, was im Polizeigewahrsam nur sehr eingeschränkt der Fall ist, wie mehrere Personen gegenüber bordermonitoring.eu berichteten. Der Bürgermeister von Szeged (nicht von der Orbán-Partei Fidez) stellte sogar einen Holzhaus für die Initiative zur Verfügung und organisierte zudem mobile Toiletten und Waschbecken. Weiterhin wurde direkt am Bahnhof eine gut gefüllte Kleiderkammer eingerichtet, die sogar Spenden aus Rumänien und Serbien erhielt.
Was in Szeged am Bahnhof geschieht, ist dabei mehr als bloße humanitäre Hilfe: Die Existenz und das äußert professionelle Vorgehen dieser erst wenige Tage alten Bürgerinitiative belegt eindrucksvoll, dass Europa auch ein Ort des Willkommens und nicht der Ablehnung, Ignoranz und Inhaftierung sein könnte. Und mit der gelebten Solidarität vor Ort geht natürlich auch ein politisches Statement einher. Gegenwärtig bedeutet das natürlich vor allem, nicht mit dem Grenzzaun einverstanden zu sein, mit dessen Bau gestern begonnen wurde.