Ungarn – das nächste Griechenland?

Der erhebliche Anstieg der Flüchtlingszahlen in Ungarn, welchen wir bereits vor einer Woche in einem Artikel thematisierten, führte in den letzten Tagen zu erheblichen Spannungen zwischen der EU und Ungarn: Die ungarische Regierung erklärte gegenüber den anderen Dublin-Staaten, aus „technischen Gründen“ derzeit überhaupt keine Dublin-Rückkehrer_innen mehr zurücknehmen zu können. Der Zeitpunkt war sicherlich nicht ganz zufällig gewählt, denn am 25./26. Juni soll im Rahmen eines EU-Gipfels auch über die Einführung einer Quotenregelung gesprochen werden. Allerdings ruderte der ungarische Außenminister Peter Szijjarto bereits einen Tag später aufgrund des Drucks anderer EU-Staaten (insbesondere aus Österreich) wieder zurück und erklärte, dass man sich natürlich an die europäischen Vereinbarungen halten werde. Allerdings, so fügte er hinzu, vertrete man die Ansicht, dass Griechenland und nicht Ungarn für die Aufnahme zuständig sei.

Über Mazedonien und Serbien nach Ungarn

Tatsächlich trifft es zu, dass die überwiegende Mehrheit der Asylantragsteller_innen in Ungarn (die vor allem aus Syrien und Afghanistan kommen) zunächst von der Türkei aus nach Griechenland und damit in die EU einreist. Von dort aus durchqueren sie dann in der Regel Mazedonien. Dies zumeist zu Fuß entlang der Bahngleise oder auch mit dem Fahrrad: So hat sich etwa der Kleinstadt Demir Kapija mittlerweile ein schwunghafter Handel mit Fahrrädern etabliert.  Hintergrund ist, dass es Flüchtlingen in Mazedonien bis vor Kurzem nicht erlaubt war, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen. Im Mai starben 14 Transitmigrant_innen in Pcinja als ein Zug in eine Gruppe von 50 Personen fuhr, die sich auf den Gleisen aufhielt.

Reaktionen auf den geplanten Zaun

In der vergangenen Woche kündige Ungarn an, entlang seiner 175 Kilometer langen Grenze zu Serbien einen vier Meter hohen Zaun zu errichten, was naturgemäß in Belgrad nicht gerade positiv aufgenommen wurde:

Serbia can’t be responsible for the situation created by the migrants, we are just a transit country. Is Serbia responsible for the crisis in Syria? We’re not going to do the same to Macedonia as the Hungarians. Serbia will not build walls. It will not isolate itself.” (Aleksandar Vuci, serbischer Premierminister)

Dennoch wurden kürzlich 29 serbische Polizist_innen am Grenzübergang Bački breg verhaftet, womit die serbische Regierung sicherlich auch die Botschaft nach Budapest senden wollte, nun effizient gegen irreguläre Transitmigrant_ innen bzw. deren Helfer_innen vorzugehen, in der Hoffnung, den Bau des Zauns vielleicht doch noch verhindern zu können.

Gemeinsame Grenzpatrouillen

Vor einigen Tagen besuchte bordermonitoring.eu die ungarisch/serbische Grenzregion in der Nähe der Stadt Szeged, um sich vor Ort  einen eigenen Eindruck von der gegenwärtigen Situation und den geographischen Gegebenheiten zu verschaffen: Das Gelände ist geprägt von dichten Auwäldern und Feldern und verfügt über nahezu  keine natürlichen Erhebungen, was eine Überwachung mittels Infrarotkameras erheblich erschweren dürfte. Überraschenderweise gestaltete es sich äußerst schwierig ein Hotelzimmer zu finden, da die Pensionen und Hotels in der Region aktuell mit ungarischen Polizisten und weiterer Verstärkung u.a. aus Finnland, der Slowakei, Deutschland und Österreich nahezu ausgelastet sind. Ob es sich hierbei tatsächlich um eine gemeinsame FRONTEX-Operation oder um binationale Vereinbarungen handelt, ist gegenwärtig noch unklar. Mittlerweile gibt es auch an der serbisch/mazedonischen Grenze gemeinsame Patrouillen, an den sich neben Ungarn auch Österreich beteiligt.

Im Zug

bordermonitoring.eu sprach in der Grenzregion mit etlichen Transitmigrant_innen, die kurz zuvor die Grenze überschritten hatten: Nachdem ihnen von den ungarischen Behörden die Fingerabdrücke abgenommen wurden, erhielten sie ein Dokument, das sie dazu aufforderte,  sich innerhalb einiger Tage bei einer der drei ungarischen Aufnahmeeinrichtungen zu melden und zugleich auch als Fahrkarte dient. Es ist daher kaum verwunderlich,  dass der stündlich von Szeged nach Budapest verkehrende Zug gegenwärtig vor allem von Migrant_innen genutzt wird. Seit Wochen ist die Umgebung des Budapester Bahnhofs von  Migrierenden geprägt, die ganz offensichtlich versuchen, sofort weiter zu reisen oder aber nicht wissen, wie sie in die Aufnahmeeinrichtung in Bicske (ein Vorort von Budapest) kommen können. Diejenigen, denen eine Weiterreise aufgrund der Strapazen der Reise und erlebter Traumatisierungen nicht mehr  möglich ist, werden gegenwärtig vorläufig in einem Hanger nahe dem Grenzdorf Röszke untergebracht.

Grenze-Serbien-Ungarn
Serbisch/ungarische Grenze

 

Rumaenische-Grenzpolizei
Rumänische Grenzpolizei in der „Thermal Pension“ in Kiskunhalas


Weitere Maßnahmen

Neben der Errichtung des Zauns sind in Ungarn momentan eine Reihe von Gesetzesänderungen  im Gespräch, die allerdings noch nicht verabschiedet worden sind. Zu nennen sind hier vor allem die Beschleunigung der Asylverfahren, die Verpflichtung zur gemeinnützigen Arbeit für Asylsuchende,  die Verschärfung des Inhaftierungsregimes für Asylsuchende und die Erklärung Serbiens zum „sicheren Drittstaat“. Letzteres wurde bereits bis Ende 2012 praktiziert, musste dann allerdings  insbesondere aufgrund des Drucks der Europäischen Kommission wieder aufgegeben werden. Ebenso wie bei der einseitigen Aufkündigung des Dublin-III-Abkommens ist hier also von einem erheblichen Konfliktpotential auszugehen. Weiterhin etablierte die ungarische Polizei vor einigen Tagen Kontrollpunkte an den Straßen um die Stadt Szeged.

Fazit und Ausblick

Was von der Fachöffentlichkeit schon länger wahrgenommen wurde,  wird nun zunehmend auch einer breiteren Öffentlichkeit bekannt: Das Dublin-Abkommen ist aufgrund der kaum zu kontrollierenden Bewegungen der Migration faktisch gescheitert. Ungarn (und dies gilt wohl in ähnlicher Weise auch für Italien) ist weder Willens, noch  überhaupt in der Lage, zehntausende Dublin-Rückkehrer_innen aufzunehmen. Auch nach dem vorläufigen öffentlichkeitswirksamen Rückzieher Ungarns im Hinblick auf die Rücknahmebereitschaft nimmt Ungarn nach wie vor nicht mehr als zwölf Rückkehrer_innen täglich auf und könnte mehr auch gar nicht unterbringen, weder in der sogenannten Asylhaft, noch in den offenen Aufnahmeeinrichtungen in Debrecen, Bicske und Vámosszabadi, deren Gesamtkapazität nicht einmal 2500 Plätze beträgt. Für Personen, die einen Schutzstatus zugesprochen bekommen haben, existieren in ganz Ungarn  gerade einmal 105 Plätze in zwei kirchlichen Projekten. Dem stehen allein in diesem Jahr bereits 61. 000 Asylgesuche entgegen. Es spricht somit einiges dafür, dass Ungarn nach Griechenland das zweite Land werden wird, das auch offiziell von der Liste der Dublin-Staaten gestrichen werden muss. Dies hätte sicherlich auch zur Folge, dass die Dublin-Verordnung in ihrer gegenwärtigen Form als Ganzes massivst in Frage gestellt werden würde. Auch ist davon auszugehen, dass die Errichtung des Zauns zwar zu einer Verringerung der Asylantragszahlen in Ungarn führen wird, aber sicherlich nicht dazu, dass die Migrant_innen in Griechenland bleiben. Sie werden sich einfach neue Routen suchen. Beispielsweise über Kroatien. Der Grundgedanke der Dublin-Verordnung, dass sich irreguläre Migrant_innen über ihren Fingerabdruck gewissermaßen an das Land ihrer Einreise „festkleben“ lassen, hat sich schlichtweg als nicht realisierbar erwiesen, da werden auch keine Zäune helfen.

Weitere Informationen zur Situation in Serbien finden sich in diesem aktuellen HRW-Bericht.